Kommunikation im Wandel. #neusprech.

Versteht mich jemand?

Im Dezember 2018 sendete der ESA-Astronaut Alexander Gerst noch während der Horizons-Mission eine Botschaft an seine zukünftigen Enkelkinder von der Cupola der Internationalen Raumstation.

Sprache ist nichts Statisches. Sie verändert sich. Immer wieder aufs Neue. Doch seit einigen Jahren ist diese Veränderung stärker spür- und erlebbar. Neue Kommunikationsgewohnheiten durchdringen Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung.

Wo liegen die Ursachen? Wichtige Punkte sind die schnelle Digitalisierung, der ungebremste Smartphone-Boom und eine neue Social-Media-Kultur, die unsere Sprache und das Verhalten der Menschen nachhaltig beeinflussen.

„Ist dem Deutsch noch zu retten?“, titelte die Zeitschrift GEO provokativ. Wie man an den Sprach- beziehungsweise Schreibschnipseln aus den sozialen Netzwerken sehen kann, wird die deutsche Sprache gedehnt, erweitert, verkürzt, verslangt, vermischt, vereinfacht und oft durch Visualisierungen wie Emoticons, Emojis oder Selfies ergänzt. Aber ist die deutsche Sprache wirklich bedroht? „Der Zustand der deutschen Sprache ist hervorragend“, sagt Wolfgang Klein, Leiter des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. „Die digitalen Medien schaffen die alten Formen der Kommunikation nicht ab, sie bereichern sie um neue Möglichkeiten.“1

Beispielsweise wird in den sozialen Netzwerken so viel geschrieben wie nie zuvor. Jannis Androutsopoulos, Linguistikprofessor an der Universität Hamburg, spricht gar von einer „neuen Ära der Schriftlichkeit“.2 Und die große digitale Schreibwut hat alle Altersgruppen erfasst, auch wenn die Jüngeren, die so genannten Digital Natives,3 hier weiterhin führend sind.

1. Wortschatz. Wir schaffen neue Wörter.
Kennen Sie „Hygge“, „Shitstorm“, „LOL“, „cornern“, „nice“ oder „Hoodie“?4 Momentan erleben wir einen wahren Boom von neuen Wortkreationen – Motor dafür sind die Digitalisierung, Mode, Trends und Migration.

2. Orthografie. Wir schreiben schneller und nehmen Fehler in Kauf.
„ich far innie uhrlaup“: Schreibfehler liegen laut Fachleuten oft an einer eiligen Textproduktion in sozialen Netzwerken und weniger an einer mangelhaften Rechtschreibkompetenz. Gut, dass die Lesenden heute großzügiger beim Thema Fehler sind. Viele Angebote im sozialen Netz können nur funktionieren, weil viele Menschen bereit sind, viele Informationen ohne großen Aufwand beizusteuern. Ein Beispiel: Hotel- und andere Bewertungen. Hier werden Verlässlichkeit, Relevanz und Engagement für das Anliegen der Community höher bewertet als eine geschliffene Formulierung.

3. Produktion. Wir schreiben spontaner.
Bisher war Schreiben immer auf eine gewisse Nachhaltigkeit ausgelegt. Jetzt wird in den sozialen Medien geschrieben, auf „Absenden“ gedrückt und es kommt oft innerhalb von Sekunden eine Antwort zurück. Und so weiter. Die Kulturredaktion des MDR schreibt: „In den sozialen Medien schreibt man für den Moment.“5

4. Weglassen. Wir verkürzen die Sprache.
Es ist die kurze Form, die charakteristisch für die Sprache in sozialen Medien ist; dazu gehören auch viele Auslassungen: „Hab ich auf mein Handy gesehn“ oder „Was machst du Wochenende?“

5. Mündlichkeit. Wir schreiben, wie wir sprechen.
Die schriftliche Kommunikation wirkt wie ein Gespräch und folgt den Regeln der mündlichen Kommunikation: Einfachheit, Effizienz und weit weg von den offiziellen Grammatikregeln.

6. Stile. Wir kommunizieren in jedem Medium anders.
Und das mühelos. Bei einem entspannten WhatsApp-Plausch der Montagssportgruppe wird anders geschrieben als in der Mail an die Finanzbehörde, öffentliche Kommentarspalten unterliegen anderen sprachlichen Konventionen als ein Blogbeitrag. Es gibt Sprachvarianten für jedes soziale Netzwerk – vielleicht sogar für jede Gruppe darin. Es ist üblich, zwischen unterschiedlichen sprachlichen Regeln hin- und herzuwechseln. „Damit experimentiert unsere Gesellschaft gerade exzessiv“, sagt Sprachexperte Jannis Androutsopoulos.6

7. Grammatik. Wir machen vieles einfacher.
Ein paar Beispiele: Die Vorstellung „weniger ist mehr“ erfasst auch unsere Verben. Ganz nach englischem, türkischem und persischem Muster werden Wörter wie „schießen“, „inszenieren“, „durchführen“ durch das simple Wort „machen“ ersetzt. „Müller macht ein Tor; Castorf macht eine Aufführung; die Polizei macht eine Kontrolle“. Unübersehbar sind auch Veränderungen im Gebrauch von Artikeln. Heißt es: „der“, „die“ oder „das Klientel“? Oder lässt man „der“, „die“, „das“ einfach ganz weg?

8. Interpunktion. Wir sagen: Der Punkt ist kein Punkt mehr.
Bisher markieren Punkte das Ende eines Satzes. Heute werden Punkte im digitalen Raum neu definiert. Oft fallen sie ersatzlos weg. Wo sie eingesetzt werden, haben sie eine emotionale Bedeutung: verstanden als Signal für Entschiedenheit oder schlechte Laune („Nee.“). Zusätzlich ist ein überbordender Einsatz von Ausrufezeichen zu beobachten!!!!!

9. Migration. Wir sprechen immigrierter.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betonen, dass intensive Sprachkontakte der Motor für Sprachwandel und Sprachvereinfachung sind. Vor allem in deutsch-russischen und deutsch-türkischen Communitys haben sich eigene Umgangssprachen entwickelt. Man nehme ein paar Wörter aus dem Deutschen und ein wenig Grammatik und mixe sie mit Wörtern und Strukturen aus einer anderen Sprache: Fertig ist das neue Sprachkonstrukt.7

10. Visualisierung. Wir sprechen mit Smileys.
Smileys geben den Schreibenden die Möglichkeit, wie in der gesprochenen Sprache Emotionen auszudrücken und so eine visuelle Ebene in die schriftliche Kommunikation einzufügen. Sprachliche Zeichen werden laut Fachleuten „durch Emojis, Hashtags, Memes oder Bewegtbilder ergänzt. Die Sprache wird dadurch bereichert“.

Doch eines bleibt bei allen Veränderungen gleich; das Bemühen, miteinander zu kommunizieren und sich zu verstehen.
 

Download: VBL-Geschäftsbericht 2018, PDF, 14 MB

 

Quellen:
1 GEO, Ist dem Deutsch noch zu retten, 2019.
2 Spektrum der Wissenschaft kompakt, Smartphones, 2017.
3 Digital Natives“: Es handelt sich dabei um Jugendliche und junge Erwachsene, die ganz selbstverständlich mit digitaler Technik und digitalen Medien aufgewachsen sind.
4 Bedeutungen: „Hygge“: Gemütlichkeit als Lebensprinzip, „Shitstorm“: lawinenartiges Auftreten von negativen bzw. beleidigenden Posts und Kommentaren in den sozialen Netzwerken, „LOL“: Gelächter, „cornern“: treffen, „nice“: gut oder toll, „Hoodie“: Kapuzenpullover.
5 mdr.de, MDR Kultur, 2019
6 Die Zeit, Die deutsche Sprache, 16/2016.
7 sprachenlernen24.de, Sprachen in Deutschland.